Herbert Henzler: Herausforderungen für die Geschäftswelt der Zukunft

Prof. Dr. Herbert Henzler
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Sicher haben Sie schon einmal von der Weizenkornlegende gehört: Ein indischer Herrscher gewährt einem Gelehrten einen freien Wunsch. Dieser wünscht sich Weizenkörner: Auf das erste Feld eines Schachbretts soll ein Korn gelegt werden, auf das zweite die doppelte Menge, auf das dritte wiederum das Doppelte usw. Am Ende stellt sich heraus, dass – alle Felder des Schachbretts addiert – der Wunsch des Gelehrten über 18 Trillionen Weizenkörnern entspricht.

Warum erzähle ich Ihnen das? Letztes Jahr veröffentlichten die beiden Wissenschaftler Andrew McAfee und Erik Brynjolfsson ihr Buch The Second Machine Age. Hierin erläutern sie, wie sich unsere Welt durch die digitale (R)evolution verändern wird. Laut den Autoren befinden wir uns bereits auf der zweiten Hälfte des Schachbretts, wo die Menge der Weizenkörner pro Feld schon riesig ist und noch schneller noch größer wird.

Moore’s Law

Übertragen auf die Wirtschaft heißt das: Im digitalen Zeitalter steigt die Menge dessen, was die Wirtschaft produzieren kann, exponentiell an. In einem Tempo, das nicht zu vergleichen ist mit dem Fortschritt vergangener Tage.

Das betrifft in erster Linie den IT-Bereich: Bereits 1965 prophezeite Gordon Moore, Mitbegründer von Intel, dass sich die Kapazität von Computern etwa alle 18 bis 20 Monate verdoppeln wird – das sogenannte Moore’s Law. Es hat tatsächlich noch immer Bestand. Im Ergebnis bedeutet das: Schon heute verfügen wir über eine unglaubliche Menge an Daten. Dimensionen, wie wir sie bisher nicht annähernd kannten. Und all diese Informationen sind global und quasi in Echtzeit verfügbar. Sie erinnern sich sicher an den Börsencrash im August in China: Innerhalb kürzester Zeit waren überall auf der Welt die Märkte in Aufruhr.

Prof. Dr. Herbert Henzler
Prof. Dr. Herbert Henzler

Wo die digitale Entwicklung hinführt, lässt sich ansatzweise erahnen: Schon heute wissen wir, dass dank digitaler Technik in nicht allzu ferner Zukunft selbstfahrende Autos auf unseren Straßen fahren werden. Computer tragen auch dazu bei, dass unsere Lebenserwartung immer weiter steigt (eine Frau, die heute geboren wird, wird etwa 102 Jahre alt werden) oder wir unsere Ressourcen immer effektiver nutzen können. Die digitale Entwicklung gestaltet unsere Welt!

The Winner takes it all

Eine Grundregel für die Wirtschaft im digitalen Zeitalter lautet: The Winner takes it all! Nehmen Sie Google, den Erfinder der Suchmaschine. Das Unternehmen hat einen Marktanteil von über 90 Prozent. Oder Hollywood: Julia Roberts hat für ihre letzte Rolle 19,5 Millionen Dollar Gage erhalten. Der durchschnittliche Hollywood-Schauspieler verdient 2.000 Dollar im Monat. If there is a Winner, he takes it all – egal in welcher Branche.

Andererseits sorgt die rasante digitale Entwicklung auch dafür, dass in hoher Frequenz neue Produkte und Dienstleistungen entstehen. Die Karten werden für Unternehmen also alle 18 bis 20 Monate neu gemischt. Das hat man auch bei Google erkannt. Vor Kurzem war ich dort zu Gast und man sagte mir sinngemäß: „Die Suchmaschine ist ein wichtiger Teil unseres Geschäfts. Doch wir wissen, dass wir erst an der Oberfläche dessen kratzen, was Computer können.“

Out-Uber-ed!

Erinnern Sie sich noch an ein Unternehmen namens Kodak? Als ich als junger Mann Praktikant in New York war, hatte Kodak in seiner Zentrale in Rochester, NY, etwa 100.000 Mitarbeiter. Man war sich sicher: Kodak will stay forever! 2012, nur rund 50 Jahre später, meldete das Unternehmen Insolvenz an. Die digitale Entwicklung hatte die Firma „out-kodak-ed“.

Man könnte auch sagen: Kodak wurde „out-Uber-ed“. Uber ist ein perfektes Beispiel dafür, wie ein Unternehmen dank der digitalen Entwicklung eine ganze Branche revolutionieren kann. Uber ist heute ca. 50 Milliarden Dollar wert – sechs Jahre nach seiner Gründung. Oder nehmen Sie Airbnb: Hilton hat 80 Jahre für weltweit 650.000 Betten gebraucht, Airbnb hatte nach fünf Jahren eine Million. Das Unternehmen ist inzwischen 22 Milliarden Dollar wert – und ihm gehört nicht einmal ein einziges dieser Betten.

Prof. Dr. Herbert Henzler, Dr. Rudolf Gröger
Prof. Dr. Herbert Henzler, Dr. Rudolf Gröger

In der Welt, in der ich aufgewachsen bin, war das anders. Der Fortschritt war langsam und vor allem: er war messbar. Es hat 50 Jahre gedauert, bis die Dampfmaschine von England auf den europäischen Kontinent kam. Henry Ford benötigte 50 Jahre ab Erfindung des Autos, bis er in der Lage war, es industriell zu produzieren. Und japanische Unternehmen weitere 20 Jahre, bis es ihnen ebenfalls gelang.

Verglichen damit ist der Fortschritt heute rasant. Das resultiert in immer schwierigeren Marktbedingungen. Schon heute sehen wir, dass der stationäre Einzelhandel verschwindet, er wird „out-Amazon-ed“. Wer keinen Onlinehandel betreibt, kann kaum überleben.

Auch vor dem Bildungsbereich macht die digitale Entwicklung nicht halt: 2012 gründete der deutsche Informatiker und ehemalige Google-Vizepräsident Sebastian Thrun mit Partnern das Unternehmen Udacity, das sich auf Online-Kurse und -Vorlesungen spezialisiert hat – sogenannte MOOCs (Massive Open Online Courses). Sie können heute komplett online studieren, anstatt auf eine Campus-Universität zu gehen. Die University of Phoenix in Arizona, USA, die ihre Programme primär online anbietet und die größte Hochschule ihrer Art ist, hat über 400.000 Studierende! Selbst in Harvard kam man jetzt darauf, dass es vielleicht gar keine so schlechte Idee ist, Studiengänge auch im Web anzubieten.

Unternehmen müssen auf die digitale Entwicklung reagieren, Prozesse anpassen, neue Geschäftsmodelle und -felder identifizieren. Einige Trends lassen sich schon heute feststellen:

  • Unternehmen benötigen in erster Linie Wissen über die digitale Welt, um in ihr zu (über)leben
  • Innerhalb der Unternehmen werden zunehmend High-Performance-Teams arbeiten, die für ein Projekt zusammenkommen und sich danach wieder auflösen
  • Es entstehen immer mehr Integrated Enterprises, Unternehmen, die ihre Produktions- und Wertschöpfungsprozesse global integriert organisieren (als Quasi-Nachfolger der Multi-National Corporations)
  • Auch Extended Enterprises, Unternehmen, die relativ lose in einem sich selbst organisierenden Netzwerk agieren und gemeinsam mit Partnerunternehmen eine Wertschöpfungskette bilden, werden eine noch größere Rolle spielen als heute schon

Ich bin übrigens 23

Studierende fragen mich oft, welche Folgen die digitale Entwicklung für ihre Karriere hat und welche Tipps ich ihnen geben kann. Als ich meine professionelle Laufbahn begann, kam ich über den zweiten Bildungsweg zur Universität. Ich hatte aber auch keine globale Konkurrenz. Wenn man hier in München lebte, ging man in München zur Uni und danach in München zu Siemens oder zur Allianz. Und dort blieb man dann.

Wenn ich mir heute Lebensläufe ansehe von jungen Studierenden, die sich für ein Praktikum bei McKinsey bewerben, liest sich das in etwa so: „Ich habe ein Abitur von 1,1 und Praktika in Nicaragua sowie Myanmar absolviert. Ich engagiere mich außercurricular bei Amnesty International und ein Instrument spiele ich auch. Und übrigens, ich bin 23.“

Ich weiß nicht, ob ich das gut finden soll, aber so ist die Realität in unserer transparenten Welt. Der Wettbewerb ist immens – auch für angehende Unternehmer und Manager. Auf der anderen Seite entstehen in einer sich stetig und rasant verändernden Welt auch immer wieder neue Chancen. Daher lautet mein Rat: Carpe diem! Nutze den Tag! Dieses Motto war mir in meiner Karriere stets ein guter Begleiter.

One-winged Birds can’t fly

Die eingangs erwähnten über 18 Trilliarden Weizenkörner würden übrigens einen Berg ergeben, der höher ist als der Mount Everest. Ich selbst bin passionierter Bergsteiger, Gipfel zu erklimmen war während meiner Karriere ein wichtiger Ausgleich für mich. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die jede Minute in ihre Karriere investiert haben, die süchtig nach Geld oder Status wurden. Nur arbeiten funktioniert nicht. Ich habe mir dazu einmal folgenden Satz ausgedacht: One-winged Birds can’t fly. Sei es Sport, Lesen oder ein anderes Hobby, das Sie begeistert: Denken Sie neben der Karriere auch an Ihren zweiten Flügel!

Prof. Dr. Herbert Henzler ist einer der erfolgreichsten deutschen Unternehmensberater. Er war unter anderem German und European Chairman bei McKinsey & Company und Senior Advisor bei der Credit Suisse Group. Heute ist er als Senior Director für die Investmentbank Moelis & Company tätig und hält darüber hinaus Aufsichtsmandate in mehreren Unternehmen. Prof. Dr. Henzler ist Träger des Bundesverdienstkreuzes, veröffentlicht Bücher zu wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Themen und doziert an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität sowie der Skolkovo Moscow Business School.

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