Die Digitalisierung eines Landes – oder ist doch alles nur ein Traum?

People side by side on a bench using different digital devices such as a laptop, smartphone or tablet.

Prozessdigitalisierung, Datenanalyse und KI sind täglich in den Nachrichten präsent. Jede Woche hören wir von Unternehmen, die Digitalisierung einsetzen, um ihr Serviceangebot zu verbessern oder das Kundenerlebnis zu steigern. Ein anderes Mal konfrontieren uns die Nachrichten mit der zunehmenden und beschleunigten Digitalisierung. Passen Sie auf, sonst wird Ihre Familie als nächstes digitalisiert. Die Geschwindigkeit und der Schub der Digitalisierung sind überall zu spüren. Oder etwa doch nicht? Gehen Sie aus der Tür und schwupps: Willkommen zurück in der realen Welt, wo die Digitalisierung von staatlichen und sozialen Dienstleistungen noch auf sich warten lässt.

Bevor Sie weiterlesen: In diesem Artikel soll es nicht darum gehen, sich zu beschweren. Vielmehr werfen wir mit einer Brise Humor einen staunenden Blick auf die Zukunft der Digitalisierung.

Medizinische Dienstleistungen

Kennen Sie die Situation, wenn Sie in eine Arztpraxis gehen und Ihnen erst einmal drei Seiten Papier zum Ausfüllen in die Hand gedrückt werden? Nachdem Sie freundlich darüber aufgeklärt wurden, wie die Formulare auszufüllen sind – nur für den Fall, dass Sie es noch nicht wussten -, füllen Sie die Formulare aus, geben sie dann am Empfang zurück, lassen sie gegenchecken und warten dann nochmals, bis der*die Ärzt*in die Formulare kontrolliert hat, bevor die Behandlung endlich beginnen kann. 30 Minuten investierte Zeit sind verschwunden – für immer. War das nicht eine wertvolle und angenehme Erfahrung? Neulich war ich wieder in dieser Situation, nur dass es nicht um mich, sondern um meine zwei Kinder ging und ich folglich doppelt so viele Formulare zum Ausfüllen hatte. Muss das sein? Kann der Chip auf der Versicherungskarte nicht alle allgemeinen Informationen speichern, die benötigt werden? Ja, viele sorgen sich um den Schutz der persönlichen Informationen, aber vielleicht sind das genau die Personen, die viel Zeit haben, in Büros zu sitzen. Mir wäre es lieber, ich könnte die eingesparte Zeit für angenehmere Erlebnisse nutzen. In 30 Minuten könnte ich zum Beispiel eine Menge Eis essen, etwas Neues lernen oder eine Happy Hour mit meinen Studierenden veranstalten.

Konsularische Dienstleistungen

Aufgrund von COVID-19 ist das Konsulat der USA geschlossen. Ich muss jedoch meinen Reisepass erneuern. Die gute Nachricht ist, dass dies auf dem Postweg erledigt werden kann. Voraussetzung hierfür ist allerdings ein spezieller cashier’s check – ein Bankscheck in US-Dollar, der nur von einer US-Bank ausgestellt und unterschrieben werden darf. Hmmm, eine ganz schöne Herausforderung. Ich schätze, ich warte lieber, bis das Büro wieder öffnet, mache einen Termin und fahre dann dorthin, passiere die sehr strengen Sicherheitsvorkehrungen, die keine Telefone oder sonstige Elektronik im Inneren erlauben, und warte eine Weile, um die Dokumente für eine Passverlängerung zu übergeben, bevor ich schließlich wieder nachhause reise. Große Zeitverschwendung. Es muss doch einen Weg geben, diesen Prozess einfacher zu gestalten und mir mehr als drei Stunden der wertvollsten Ressource zu sparen: Zeit.

Steuern

Gibt es eine Person, der die Steuererklärung Spaß macht? Ich habe die große Ehre, die Steuererklärung in zwei Ländern zu machen. Beide nehmen viel Zeit in Anspruch. Es ist ein etwa fünftägiges Unterfangen mit viel Stress. Das bedeutet, dass mir der Prozess mehr als zwei Wochenenden kostbarer Familienzeit raubt. Darüber hinaus lässt mich mich der Prozess in beiden Ländern spätestens zur Mitte hin an meinen Sprachkenntnissen zweifeln. Von einem Anlageservice habe ich eine E-Mail erhalten, in der mir ausdrücklich geraten wird, einen bestimmten Posten unter Zeile xx und nicht unter Zeile xy auf Dokument abc einzutragen, da sonst der Steuervorteil wegfällt. Ich bin mir nicht sicher, ob das tatsächlich Zeit spart oder bloß Verwirrung stiftet. Vielleicht haben Mitlesende die gleiche Idee wie ich: Alles einfach unter mehreren Zeilen auflisten und dann das Finanzamt aussortieren lassen. Aber wenn wir das alle machen, führt das zu erhöhtem Zeitaufwand und Stress, sowohl für die Steuerzahler*innen als auch für das Finanzamt. Da viele Daten, wie beispielsweise der Arbeitslohn, Gewinne/Verluste von Anlagekonten oder Versicherungen, sowieso direkt an das Finanzamt übermittelt werden, könnte mir das Finanzamt die Steuererklärung nicht wenigstens zu 95 % ausgefüllt zukommen lassen? Mehr digitale Meldungen direkt an das Finanzamt würden Zeit und Kosten sparen! Vielleicht könnten sie die Einsparungen weitergeben und meine Steuern senken. Das wäre doch toll!

Weitere Einsatzmöglichkeiten und ein Land mit Vorbildfunktion

In welchen Bereichen investieren wir sonst noch zu viel Zeit und Geld, die von einer Regierung digitalisiert werden könnten? Wählen? Bei der letzten Wahl musste ich meinen Stimmzettel per FAX in die USA schicken, dabei dachte ich, das Fax sei schon in den 1990er Jahren ausgestorben. Wie sieht es im Bereich (öffentlicher) Sicherheit oder im Mobilitätssektor aus?

Nun, es gibt ein Beispiel, von dem wir alle lernen können: Estland. Bei vielen Dienstleistungen könnten wir Zeit und Geld sparen und die Regierungen ebenso. In einem Vortrag zur Digitalisierung von Dienstleistungen am 21. April von 9 bis 10 Uhr erfahren Sie, wie die 1,3 Millionen Einwohner Estlands 844 Jahre Arbeitszeit eingespart haben. Seien Sie dabei und lassen Sie danach Ihre Regierung wissen, was sie digitalisieren muss, um Ihre Lebenszufriedenheit zu verbessern.

Registrieren Sie sich vorab über den Virtual Campus, um an der Veranstaltung teilzunehmen. Das Meeting findet über Zoom statt.
Christopher Weilage Portrait
Über Prof. Dr. Christopher Weilage 60 Artikel
Christopher Weilage, Professor für Betriebswirtschaft und Business Communication, beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den Themen International Business und Kommunikation. Weilage absolvierte seinen MBA International Business an der Moore School of Business der University of South Carolina, USA und anschließend den IMBA International Business an der Helsinki School of Economics and Business in Finnland. Am Lehrstuhl für Deutsch als Fremdsprache der LMU München promovierte der gebürtige US-Amerikaner zum Thema E-Learning.